Tocotronic
Sag Alles Ab – Best Of 1994-2020
Universal Records
VÖ: 21.08.2020
Tocotronic und ich, das ist so etwas wie eine 25 Jahre währende Hassliebe. Als kleiner Punker vom Land war ich begeisterter Fan von “Wir kommen um uns zu beschweren” während ich um die Jahrtausendwende dann völlig den Draht zur Band verloren habe. Mittlerweile bin ich wieder ein Fan der Band. Nicht mehr der begeisterte Jungspund, der ich einmal war, aber doch von großem Respekt vor dem Werk der Band geprägt. Dieses Werk bekommt nun mit “Sag Alles Ab – Best Of 1994-2020” ein stilsicheres Denkmal gesetzt.
Ich werde nie vergessen, wie ich “Ich Kann Die Welt Nicht Mehr Verstehen” zum ersten Mal gehört habe. Der Text, das unfassbar schlimme Schlagzeug und diese zur Schau gestellte Verweigerungshaltung der Band haben mich damals tief beeindruckt. Dazu Songs wie “Ich Verabscheue Euch Wegen Eurer Kleinkunst Zutiefst” – das fand ich mit 18 absolut super. So super, dass ich auf meiner zweiwöchigen Straßenmusiker-Tour mit einem Freund auch Tocotronic-Songs gespielt habe. Und es ist kein Witz. Wir haben immer nur dann Geld bekommen, wenn wir deren Songs gespielt haben (Okay, oder Green Days “Good Riddance”).
Als 1997 dann “Es Ist Egal, Aber” veröffentlicht wurde, fand ich das alles immer noch spannend. Mit “Sie Wollen Uns Erzählen” ist auch eins meiner absoluten Lieblingslieder mit auf dem Album. Klar, die Magie war nicht mehr da. Aber die Songs waren weiter super. Mittlerweile war ich auch Fan vom Debütalbum “Digital Ist Besser” (hat etwas gedauert, bis das bei mir angekommen ist) und dem Hit “Freiburg”. Das erste Mal gefremdelt habe ich dann bei “K.O.O.K.”. Irgendwie habe ich das Album damals nicht verstanden. Heute kann ich das überhaupt nicht verstehen. Songs wie “Jackpot” oder “Let There Be Rock” finde ich heute wirklich klasse. Zu der Zeit aber habe ich lieber Hot Water Music gehört. Da war dann für verkopfte Musik irgendwie kein Platz mehr.
Das nächste Mal wirklich mit der Band beschäftigt habe ich mich dann 2010 und dem Album “Schall & Wahn”. In den deutschen Albumcharts landete das Album auf Platz 1. Für mich war es aber eine absolute Frechheit. “Bitte Oszillieren Sie” zum Beispiel fand ich ganz schlimm und ist zurecht auch nicht auf dieser Werkschau enthalten. Was aber so faszinierend an den Alben von Tocotronic ist, ist die Zeitlosigkeit der einzelnen Stücke. Ich bin nun Anfang 40, Familienvater und von der Gesellschaft und der Politik in diesem Land ermüdet. Und gibt es einen besseren Soundtrack für unsere Generation, als das 2005er Werk “Pure Vernunft Darf Niemals Siegen”? Zumal es hier keine Spielereien, sondern wieder das klassische Gitarre-, Bass-, Schlagzeug-Spiel gab.
In der chronologisch geordneten Retrospektive “Sag Alles Ab – Best Of 1994-2020” kann man noch einmal erleben, wie Tocotronic sich unaufhörlich gewandelt haben und dabei doch immer einen roten Faden verfolgten. Wie sich jede neue Werkphase organisch aus der vorherigen ergab und wie alles, was schon einmal errungen war, unaufhörlich überdacht und überarbeitet wurde. 26 Jahre Tocotronic. Höhen, Tiefen aber immer absolut uninteressiert daran, was Fans und Medien von ihnen verlangten. Und so ist diese Zusammenstellung für Fans ein Meisterwerk und für den interessierten Musik-Fan die perfekte Art, sich mit dem Werk der Band vertraut zu machen.
Übrigens: Es gibt diese Retrospektive in vier Varianten. Als vier CDs und einem Booklet, in dem sich neben den Liner Notes viele historische, bislang unveröffentlichte Fotos der Band finden. Die zweite Variante ist eine Doppel-CD mit 36 klassischen Tocotronic-Songs inklusive “Hoffnung”; vielleicht könnte man sagen, dass es sich dabei um den definitiven Kanon der Gruppe handelt. Dieser ist auch in der dritten Variante der Retrospektive zu hören, einer Box mit drei Vinylschallplatten. Beide Fassungen enthalten wiederum die ausführlichen Liner Notes und herrliche Bilder aus drei Jahrzehnten. Die vierte Variante, schließlich, bietet exklusiv die neu ans Tageslicht geholten 18 Raritäten als Doppel-LP-Album dar.