Tocotronic
Nie wieder Krieg
Vertigo / Universal
VÖ: 28.01.2022
“Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg… keine Verletzung mehr. Nie wieder Krieg, nie wieder Krieg, nie wieder Krieg… das ist doch nicht so schwer.” So beginnt das neue, mittlerweile 13. Studioalbum der wahrscheinlich einzig wahren Indie-Insitution des Landes. Tocotronic erhalten mit “Nie wieder Krieg” mühelos ihre Relevanz und zeigen, wie man mit Stil als Band würdevoll altern kann.
Tocotronic-Kritiken zu schreiben, finde ich immer ein wenig undankbar. Das liegt daran, dass die Band – nicht nur in Bezug auf ihre Texte – eher unnahbar wirkt. Zusätzlich hat im Normalfall der Leser einer Tocotronic-Kritik selbst eine ziemlich fundierte Meinung zur Band, zum Album und häufig auch zu den Texten. Hinzu kommt, dass seit Anfang der 2000er-Jahre die Platten der Band mitunter etwas sperrig sein können und demnach etwas Zeit benötigen, ihre Schönheit zu entfalten. “Nie wieder Krieg” ist diesbezüglich anders. “Nie wieder Krieg” ist ein ganz wundervolles Album, gespickt mit Hits und Überraschungen, die es zu einem der besten Tocotronic-Alben überhaupt werden lassen.
Dabei hilft natürlich, dass bereits vier Songs vorab veröffentlicht wurden. Vier Songs, die die Vielseitigkeit der Band ganz gut aufzeigen. “Hoffnung” wurde bereits 2020 veröffentlicht. Ein wundervolles, sehr leises und von Streichern getragenes Lied, dass damals zu Beginn der Corona-Pandemie ein Zeichen des Trosts, der Hoffnung, der Solidarität setzen wollte.
“Jugend ohne Gott gegen Faschismus” besticht hingegen durch die gewohnt griffigen Slogans, die eigentlich nur Dirk von Lowtzow so auf den Punkt bringen kann. Hier erinnert die Band ein wenig an alte Zeiten. Wundervoll und unerwartet ist hingegen das Duett mit der Sängerin Soap&Skin. “Ich tauche auf” ist schlicht und toll und wahrscheinlich der “schönste” Tocotronic-Song aller Zeiten. Ich persönlich kriege regelmäßig eine Gänsehaut wenn ich diesen Song höre – wahnsinn.
Aber auch die bisher unveröffentlichten Songs zeigen, wie groß diese Band mittlerweile ist. Und damit meine ich das Selbstverständnis ihres Songwritings. “Komm mit in meine freie Welt” erinnert durch die Feedback-Orgie zu Beginn an die glorreichen Zeiten von Sonic Youth. Und das völlig unpeinlich. Was für ein starkes Brett. Die neue Single “Ich hasse es hier” ist fast schon zu plakativ. Aber ein elender Ohrwurm, den selbst meine Frau nach dem zweiten Hördurchgang in der Küche mitgesungen hat (was bei deutschsprachigen Bands wirklich äußerst selten vorkommt). Und gegen Ende des Albums kommen auch noch The Smiths um die Ecke. “Crash” ist eine kleine Perle, die noch einmal in Richtung Hamburger Schule schielt, dann aber doch weiter nach London Mitte der 1980er-Jahre schaut. Für mich der heimliche Hit des Albums.
Klar, nicht jeder Song begeistert gleichermaßen. Ich kann mich aber an kein Tocotronic-Album erinnern, dass mich in seiner Gesamtheit so überzeugt hat, wie es “Nie wieder Krieg” tut. Es ist bemerkenswert, wie die vier Musiker es schaffen, ihre vielschichtigen, klugen und unterschiedlichen Charaktere so zu bündeln, dass ein derart harmonisch wirkendes Meisterwerk herauskommt. “Nie wieder Krieg” ist für mich in Zeiten der Pandemie (während ich das schreibe sitze ich den elften Tag in Quarantäne) so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer. Eine Hand, die mich aus der Depression zieht. Ein wunderbares Stück Musik, in dem ich mich verlieren kann, aber nicht zwingend muss. Ein Lehrstück, wie man als Band interessant und relevant bleibt. Kurzum, ein super Album.
Und während ich diese Zeilen schreibe, diskutiere ich parallel mit meinem guten Freund Daniel via SMS über das Album. Und er bringt da einen weiteren Ansatz in Spiel, den ich Euch, da ich ihn so schön und relevant finde, nicht vorenthalten möchte:
Was mir auffällt ist, dass sich niemand, der sich mit dieser Band beschäftigt an das Thema Humor bei Tocotronic wagt. “Ich hasse es hier” zum Beispiel ist in vielerlei Hinsicht urkomisch, jedenfalls was meinen persönliches Humorverständnis angeht. Emotionalität und Banalität gehen mühelos und spielerisch Hand in Hand. Genau wie in “Nie wieder Krieg”, wo eben jene ikonische Forderung “Nie wieder Krieg”, die von Käthe Kollwitz geprägt wurde, in einem Satz mit Sanifair-Coupons zusammenfällt. So etwas traut man sich wohl nur, wenn man selbst schon eine Ikone ist. Ein weiteres Beispiel ist “Jugend ohne Gott gegen Faschismus”, wo die Reminiszenz an Ödön von Horváths Werk “Jugend ohne Gott” mit Textzeilen wie “Du verbringst den Sommer wieder am Kanal- an deiner linken Wade ist ein Muttermal” verknüpft wird. Vermutlich nicht jedermanns Humor, aber ich muss doch manches Mal grinsen, wenn ich Tocotronic-Texte lese und glaube zu erahnen, dass Dirk von Lotzow seine Freude daran hat, sich beim Schreiben vorzustellen, wie sich Menschen intellektuell an seinen Texten abzuarbeiten versuchen.