Shoreline
Growth

End Hits Records
VÖ: 04.02.2022

Von den Kritiker*innen hoch gelobt und im Freundeskreis seit Wochen heiß diskutiert, komme ich tatsächlich erst einen Monat nach der offiziellen Veröffentlichung dazu, mir das neue Album der Münsteraner Shoreline anzuhören. Und was soll ich sagen? Ich bin wahrscheinlich mental zu müde, um das zweite Album der Band so abzufeiern, wie es das verdient hätte. Aber “Growth” ist tatsächlich ein wahnsinnig toller, abwechslungsreicher und melodischer Knaller, der hierzulande eher selten vorkommt. 

Das wunderbare an “Growth” ist, dass jeder Hördurchgang einen neuen Hit hervorzaubert. War es zuerst “Distant”, ein recht ordentlicher Brecher an dem Smile And Burn mitgewirkt haben und bei dem es auf den Konzerten der Band sicherlich ordentlich scheppern wird, überzeugen Shoreline beim zweiten Durchlauf mit der poppigen Emo-Nummer “Meat Free Youth”, die mit einem unfassbaren Refrain um die Ecke kommt. Knaller Song mit einer – wie am Namen des Liedes erkennbar – sinnigen textlichen Aussage.

Bei “Konichiwa”, in dem Sänger Hansol Seung seine Erfahrungen mit antiasiatischem Rassismus in Deutschland verarbeitet, zeigt sich dann auch ein weiterer Pluspunkt des Albums. Der Song (wie auch der Rest der Platte) ist sehr gut produziert. Dass man sich dabei ein wenig an Amerika orientiert ist mehr als okay. Zumindest erinnert das fast schon elektronisch klingende Schlagzeug sehr an die Genregrößen der USA. Gut gemacht! Apropos Amerika, beim folgenden “Sanctuary” sind dann die Hardcorehelden von Be Well (ex-Battery, Bane) mit einem Feature dabei. Die laut/leise-Dynamik des Stückes gefällt mir gut, auch wenn hier natürlich das Rad nicht neu erfunden wird. Jetzt kann man natürlich über die Menge an Fremdbeteiligungen (mit Koji und Nervus sind zwei weitere Kollaborationen auf dem Album enthalten) schimpfen. Ich persönlich finde, dass sie auf “Growth” zur Abwechslung beitragen und sich durchweg auf hohem Niveau befinden – also vollkommen legitim bleiben.

Shoreline repräsentieren die Lebenswelt einer gesellschaftlichen Gruppe, die sich in ihrer Zukunft und ihrer Gegenwart so viel zu sorgen hat, dass sie gar nicht anders kann, als aktiv dagegen zu kämpfen. Ein Fakt, den ich immens wichtig finde. “Anger is a gift”, ihr wisst schon. “Growth” reflektiert über die Klimakrise und kritischen Konsum. Das passt und muss thematisch endlich in die Köpfe der Menschen. Leider hören die Entscheidungsträger eher selten Bands wie Shoreline. Und so stehen die versteckte Wut und die weitaus weniger versteckte Melancholie dem Album gut und machen es für mich zu einem frühen Highlight des Musikjahres 2022.

Die Welt da draußen ist momentan ein riesiger Abfuck. Und nicht nur mir, sondern ganz vielen Menschen in meinem Umfeld fehlt langsam die Kraft mit den immer neuen gesellschaftlichen oder geopolitischen Einschlägen umzugehen. Ein Album wie “Growth” ist natürlich kein Allheilmittel. Aber mir reicht es gerade die Hand, um mal wieder ein paar Tage davon zu zehren. Auch wenn ich im Anschluss wahrscheinlich wieder an der Dummheit und der Ignoranz der Menschheit verzweifel.

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