PHONY
At Some Point You Stop
Phony Industries
VÖ: 29.07.2022
Wie auch immer das passieren konnte – keine Ahnung: Das Nebenprojekt von Donovan Wolfington Sänger/Gitarrist Neil Berthier ist gänzlich an mir vorbeigegangen. Bis jetzt. Sein vor circa drei Jahren ins Leben gerufenes Projekt PHONY veröffentlichte am 29. Juli mit dem Album “At Some Point You Stop” bereits Langspieler Nummer drei. Satte vier Monate später läuft es endlich bei mir in heavy rotation. Eine gefühlte Ewigkeit, heutzutage. Das Vinyl wurde direkt eingetütet. Warum? Weil es genau das widerspiegelt, was mir im Moment an Musik Spaß macht. Beziehungsweise schon immer Spaß gemacht hat. “At Some Point You Stop” spielt mit poppigen Melodien und Auswüchsen, genauso wie mit melancholischen Einschüben. Platziert Hits an den richtigen Stellen, kann schnell und kann auch langsam. PHONY schafft einen Spagat zwischen aktuellem und nostalgischem Independent mit Punkverschlag, spielt mit Mainstream-Attitüden und scheut sich nicht vor elektronischen Zutaten und schnulzigem Pathos. Das klingt nach Lo-Fi-Synthie und Bedroom-Pop. Dann wirkt es wieder pompös. Die Art der Dosierung und die Verbindung zwischen den Songs sind perfekt gelungen.
Mit dem Akustiksong “Christmas Eve Day” beginnt “At Some Point You Stop”. Dabei handelt der Song weniger von der bevorstehenden Weihnachtszeit, als vielmehr um den Verlust von Berthiers Vater, der 2020 an den Folgen seiner Demenz starb. Ein äußerst bedrückender Start, der mit Hilfe der Ratboys Sängerin Julia Steiner gelungen vertont wird. Auch wenn in den folgenden Songs wie “The Middle” oder “Animals” melancholische Grundtöne vorhanden sind, weicht das Dunkle schnell, zumindest musikalisch. Genre übergreifend geben sich elektronische Beats und Gitarren die Hand. Im hitverdächtigen “Summer’s Cold” und dem nahezu nahtlosem Übergang in den Track “Otherwise” wird dies noch deutlicher spürbar – ein starker Part des Albums. Befreiend klingen Textzeilen wie: “Talking to myself / as if I’m talking straight to you / but I know you can’t hear me / tiny whispers start to grow / into words that heal but never / quite completely” und drücken die Verarbeitung des Verlustes aus. Die als Vorabstream schon früher im Jahr veröffentlichte Ballade “Kaleidoscope” (in Kollaboration mit dem amerikanischen SocialMedia-Star und Musiker Petey) nimmt den Gang prompt wieder raus und erzeugt mit minimalistischer Instrumentierung eine spürbare Echtheit. Während der Song “Boundary” nochmal packt und an (wenn auch peinliche) spät-1990er Jahre erinnert, war ich beim Hören des finalen Songs “Winter’s Warm” zunächst unschlüssig oder eher unaufmerksam. Der Song funktionierte erst im zweiten Hören und besitzt etwas deutlich beatlesques und bekommt bei der Hälfte einen so wundervollen Turning Point, dass wahrscheinlich diese Kleinigkeit reichen würde mich mittlerweile bei “At Some Point You Stop” um den Finger zu wickeln. Das angehängte Klavier-Outro der “Kaleidoscope”-Melodie tut ihr Übriges und ich drücke auf ‘Bitte nochmal von vorne’.
PHONY ist nach wie vor ein Prozess von Protagonist Neil Berthier, in dem aktuell “At Some Point You Stop” größer als nur eine Momentaufnahme wirkt. Die unterschiedlichen Facetten, die Mixtour aus verschiedensten Sounds und Tüfteleien kann als Findungsphase interpretiert werden. Für mich klingt es indes äußerst strukturiert und stimmig. Einschnitte im Leben verändern immer etwas. Vordergründig steht hier der Verlust des Vaters und die Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Ostküste (Bosten) nach Westküste (L.A.). PHONY hat daraus etwas richtig Gutes produziert.