Das, was gefühlsmäßig vergangene Woche Donnerstag in Berlin passiert ist, kannst du eigentlich kaum in Worte fassen. Noch schwieriger wird es, das Ganze plausibel in einen Nachbericht zu verfassen. Es bleibt ein gewisser Spielraum – die Interpretation jedes Einzelnen, das Beschriebene nachzuempfinden. Für Pearl Jam Fans vielleicht ein Leichtes, für Musiknerds, Hinterherreisende und Träumer hat das Wiedererkennungswert und der Rest sollte einfach beim nächsten Pearl Jam Gig dabei sein. Im Musikzirkus der Großen spielt diese Band schon lange mit. Obwohl sich Eddie Vedder, Stone Gossard, Jeff Ament, Mike McCready und Matt Cameron irgendwie immer auf der Fahrbahn daneben befunden haben. Gut, in den letzten Jahren haben Pearl Jam mit den Alben Backspacer (2009) und Lightning Bolt (2013) einiges in Richtung Ausverkauf wirken lassen und sind etwas näher am Mainstream Rock herangerückt. So fühlt es sich auch anfangs in Berlin an. 100 Euro Tickets, überteuerte Getränke und eine aufstoßende Massenabfertigung beim Einlass bei gefühlten 50 Grad in der Sonne. Dass hierbei nichts passiert ist und alle ruhig geblieben sind, kann man den Pearl Jam Fans gut schreiben, die irgendwie alle und immer schon die braven Rocker sind. Da hat sich Simon bei seiner 20. Pearl Jam Show im Gegensatz zu Lasse bei Konzert Nummer 2 schon dran gewöhnt. Und dennoch: was dann um 19:57 beginnt, stellt einfach so vieles in den Schatten. Weil sie dann doch anders sind und auf eine große Bühnenshow einfach verzichten, die Musik sprechen und leben lassen, die Energie so simpel und schlüssig übertragen können, auf solch einer Größe und Ebene. Die ausverkaufte Waldbühne mit ihren 22.000 Besuchern zahlte es der Band von Anfang an zurück. Da ist es auch in diesem Moment egal, dass das letzte Album 5 Jahre her ist und nur der Titeltrack gespielt wird. Pearl Jams letzte Veröffentlichung, die Single Can’t Deny Me, wird gar ganz aus dem Set gelassen.
Das Set ist gespickt mit Songs aus nahezu allen Epochen. Vom sogenannten Avocado Album (Pearl Jam, 2006) wird kein Song gespielt. Der Fokus liegt auf den 90ern. 6 Songs vom Debütalbum Ten (1991), 5 Songs vom 96er Polaroid Album No Code, 3 Songs vom Nachfolger Yield (1998). Dazu kommt der Opener Wash (Alive B-Seite, 1991) und Breath (Singles Soundtrack, 1992). Alive hat einen Playcount von 752 – Wash (92), Breath (82), Habit (98) oder In My Tree (90) sind mit ihren Zahlen dagegen als Live-Raritäten zu bezeichnen. Ganze 9 Songs feiern auf der vor gut 3 Wochen gestarteten Europatournee Premiere. Die Band schöpft aus einem fast 30jährigen Fundus an eigenen Songs, Covern und Improvisationen. Dass sie diesen Backkatalog auf jeder Tour nutzt und scheinbar ohne großen Aufwand einfach darbietet und das auch noch in einer musikalisch betörenden Art und Weise, macht sie in der Tat zur derzeit besten Liveband. Und das Publikum? 22.000 Fans sind von Beginn an ebenfalls mit einer äußerst intensiven Energie dabei. Feiern den ruhigen Beginn mit Wash und Sometimes und flippen bei Corduroy gepflegt aus. Der Pogo beschränkt sich auf das vordere Drittel der Stehplätze. Nicht nur die Band ist etwas in die Jahre gekommen. Die Energie wird durch das Mitsingen und die Körpersprache transportiert.
Entgegen einiger Befürchtungen, dass Eddie Vedder stimmlich hier und da zurückstecken muss, liefert der Frontmann eine mehr als solide Leistung ab. Das zweite Konzert in der Londoner O2 World wurde noch wegen der verlorenen Stimme Vedders gecancelt und für Ende Juli neu angesetzt. Jetzt liegt Eddie Vedder rücklings auf der Monitorbox und drückt bei Save You, Given To Fly, Even Flow oder Porch alles aus seinen Stimmbändern raus. Genauso wie die aus San Francisco angereisten Fans hinter uns, die Niederländer vor uns oder die Eifeltruppe neben uns. Bei Black kommen Simon die Tränen, bei Rearviewmirror flippt Lasse völlig aus. Es ist ein wahrer Genuss. Das Herz atmet in diesen zweieinhalb Stunden so viel Liebe und Musik ein, wie es tragen kann. Dann brichst du emotional ein. Klar, dass du dann auch zum X-ten mal zum Neil Young Cover Rockin’ In The Free World abgehst – ein Song, der mittlerweile mehr Pearl Jam als Neil Young ist.
Während zu Porch die Menge mit ihren Bierpapphaltern ausflippt, schauen wir uns um in der Menge. Wie in einer anderen Welt strahlen dir die Gesichter verrückter Fans entgegen. Jeder nimmt eine Auszeit, tankt Energie. Hinter uns ruft jemand: “Schau dir Jeff (Ament, b) an, er spielt den Bass mit dem Bierpapphalter!” Auch Vedder beteiligt sich an der nicht aufhörenden Showeinlage der Fans. Das Megaevent wird förmlich zu Clubshow. Schon vor Porch wird dieses Gefühl vermittelt, als Vedder wie fast bei jedem Besuch allen das Ramones Museum ans Herz legt (zu Recht) und darauf hin mit Lukin losbrettert. Filmemacher Danny Clinch spielt bei dem für die Masse eher unbekannten Red Mosquito Mundharmonika. J Mascis von Dinosaur Jr. taucht bei Rockin’ In The Free World auf und liefert sich eine Solischlacht mit Mike McCready. Es war ein verdammt nochmal super Gig. Auch wenn persönliche Perlen wie State Of Love And Trust (Lasse, Simon), Better Man (Lasse), Pilate (Simon), Just Breathe (Lasse) oder Jeremy (Simon) gefehlt haben, ließ das die Stimmung in keinster Weise kippen. Für zweieinhalb Stunden waren wir wohl mit den liebsten Musikfans der Welt vereint und rockten die Waldbühne. Ganz normal, mit nem großen Bierbecher in der Hand, vielen Emotionen und einer sehr gut aufgelegten Mit-50er Band.