Pearl Jam
Gigaton
Monkeywrench / Republic Records / Universal Music
VÖ: 27.03.2020
Die bisher längste Zeit zwischen zwei Studioalben des Seattle-Fünfers ist endlich vorbei. Nach sieben Jahren präsentieren Pearl Jam mit “Gigaton” satte zwölf neue Songs. Und diese gehören mit zum Besten, was die Band um Eddie Vedder in den 00er Jahren zustande gebracht hat. “Gigaton” präsentiert sich frischer und experimentierfreudiger als die beiden Vorgängeralben “Backspacer” (2009) und “Lightning Bolt” (2013). Wurde damals nach Schema F alles abgearbeitet und durch eine Überproduktion alles aalglatt gebügelt, besinnt sich “Gigaton” größtenteils darauf, neue Strukturen und neue Facetten zu entwickeln. “Dance Of The Clairvoyants”, der Vorbote im Talking Heads-Gewand, war bereits das erste Beispiel. Mit Songs wie “Quick Escape”, “Alright” oder “Buckle Up” erzeugt die Band tatsächlich wieder so etwas, wie zu “No Code” (1996) oder “Binaural” (2000) Zeiten. Etwas Neues, was gleichzeitig nicht abgelutscht klingt, sondern spannend und fordernd. Eddie Vedder (g, voc), Stone Gossard (g), Jeff Ament (b), Mike McCready(g) und Matt Cameron (d) wirkten selten so stark gefestigt und gleichzeitig aufgewühlt.
Das mag in den ersten Momenten – beim Hören der Tracks “Who Ever Said” und der zweiten Single “Superblood Wolfmoon”, die “Gigaton” einleiten – nicht auf Anhieb durchsickern. Beide Songs funktionieren erst nach und nach. Die aufgebrochene Struktur und der Griff zum Keyboard, ein starkes Break im Mittelteil machen zum Beispiel “Who Ever Said” tatsächlich erst im vierten oder fünften Anlauf äußerst schmackhaft. Herausstechend ist dagegen von Anfang an Jeff Aments Arbeit in den Songs “Quick Escape” und “Alright”. “Quick Escape” wirbelt außergewöhnlich und groovt und stampft. Ein treibender Bass und ein unkontrollierbares Schlagzeug, die mich an Rootsrockelemente erinnern und gleichzeitig etwas von Peter Gabriel besitzen. “Quick Escape” ist einer der stärksten Pearl Jam Songs der letzten 20 Jahre – beeindruckend. Mit “Alright” liefert Ament als alleiniger Songschreiber im Anschluss die verdiente Erholungsphase. Ein Cut, der an dieser Stelle genauso gut funktioniert, wie an späterer Stelle “Buckle Up” nach dem spannenden Rocker “Take The Long Way”. Nur das “Buckle Up” ein äußerst smartes Experiment von Aments besserer Hälfte Stone Gossard ist. Vedders stärkster Moment ist sicherlich das zwischenmenschliche und wütend vorgetragene “Never Destination”. Dazu gesellt sich mit “Comes Then Goes” ein gefühlter “Into The Wild”-Outtake, der sich wie eine Mischung zwischen Vedders Solosong “Far Behind” (vom “Into The Wild”-Soundtrack) und einer Inspiration des Bonnie Raitt Tracks “Angel From Montgomery” (eben auch aus “Into The Wild” aber nicht auf dem Soundtrack) anhört. Das Storytelling-Werk “Seven O’Clock” wirkt zunächst ein wenig belanglos, bevor es sich richtig entfalten kann. Schleichend entpuppt sich der Song zum Mittelpunkt des Albums und wirkt wie ein poppiges “Sleight Of Hand” (“Binaural”, 2000) gemixt mit einem verhaltenen “You Are” (“Riot Act”, 2002). Eine gewisse Pink Floyd und Wilco Melancholie ist da ebenfalls rauszuhören. Die Lyrics besitzen zudem eine große Intensität und machen den Song so äußerst packend. “Much to be done”.
Textlich beziehen Pearl Jam klar Position – ökologisch, politisch und gesellschaftlich. Das Coverartwork, der “Ice Waterfall”, wie Paul Nicklen (Klimaschützer und Meeresbiologe) sein Foto genannt hat, zeigt das in Gigatonnen gemessene, schmelzende Eis der polaren Eiskappen. Thematisch setzt sich damit vor allem die groovige Single “Dance Of The Clairvoyants” auseinander. Das dazugehörige Video liefert eine atemberaubende Visualisierung.
“Expecting perfection leaves a lot to ignore
When the past is the present and the future’s no more
When every tomorrow is the same as before”
aus “Dance Of The Clairvoyants”
Noch mehr als den ökologischen Aspekt setzen Pearl Jam aber gezielte politische Nadelstiche. Ein Aspekt, der spätestens seit der Bush-Administration, immer wieder in den Songs des Fünfers thematisiert wird. Jedoch waren wohl die Lyrics nie so auf den punkt eingebunden. So liefern “Seven O’Clock” und das unglaublich wirbelnde Science Fiction Epos “Quick Escape”, in dem Pearl Jam auf den Mars flüchten, die treffendsten Passagen:
“Sitting Bull and Crazy Horse come forged the north and west
Then there’s Sitting Bullshit as our sitting president
Talking to his mirror, what’s he say, what’s it say back?
A tragedy of errors, who’ll be the last to have a laugh?”
aus “Seven O’Clock”
“Crossed the border to Morocco
Kashmir than Marrakech
The lengths we had to go to then
To find a place Trump hadn’t fucked up yet”
aus “Quick Escape”
Zwischenmenschlich werden Pearl Jam vor allem laut, wenn sich negative Einstellungen, Ablehnungen, Lügen und Trägheit in der Gesellschaft breit machen. Gegen den Strom, der Masse entfliehen, ‘Nein’ sagen können und entschleunigen. Gerade in der aktuellen Zeit passt so ein Song wie “Alright” wunderbar und beschallt Seele und Hörgenuss gleichermaßen.
“I can’t believe it… These endless lies
Never destination, just more denial
…
Thank you Bob Honey… Thanks Paul Theroux
If I ever did, to this place let me go
Off in the distance… Leviathans
50 foot and breaking on my innocence”
aus “Never Destination”
“It’s alright, to say no
Be a disappointment in your own home
It’s alright to turn it off
Ignore the rules of the state, it’s your own
It’s alright, to shut it down
Disappear in thin air, it’s your home
It’s alright, to be alone
To listen for a heartbeat, it’s your own”
aus “Alright”
Mit “Gigaton” übertreffen Pearl Jam ihre letzten Werke “Pearl Jam” (bekannt als Avocado Album), “Backspacer” und “Lightning Bolt”. Es existieren Feinheiten sowie kleinere und größere Experimente, die es zu entdecken gibt und die wirklich spannend sind. Es kommen vermehrt Keyboards und kleinste Background-Melodien zum Einsatz. Da hörst du ein Kazoo, einen Schellenkranz, Streicher und eine verschrobene Orgel. “Gigaton” spiegelt eine gewisse Vielfältigkeit wider. Das, was Pearl Jam zwischen 1994 und 2000 so ausmachte. “Gigaton” ist definitiv eine Bereicherung im Pearl Jam Kosmos.