Paul McCartney
Paul Is Live (Vinyl-Reissue)
Universal Music Group
VÖ: 12.7.2019
Wir schreiben das Jahr 1993 und Paul McCartney ist so ziemlich jedem mit seinem Song “Hope Of Deliverance” auf den Senkel gegangen. An sein folkiges Happening samt Lagerfeuer im Wald kann sich wohl jeder MTV-Gucker erinnern. Das dazugehörige Album “Off The Ground” besaß aber weit mehr Hits, als nur diesen einen Ohrwurm. Mit “Biker Like An Icon” und “C’mon People” waren die beiden Nachfolgesingles qualitativ um Längen besser. Auch das rockige “Get Out Of My Way” und das kritische “Looking For Changes”, der Song behandelt das Thema Tierversuche, wurden zumindest in meinen Ohren, heimliche Hits im Jahre 93. Mit dem Album “Off The Ground” im Gepäck machte McCartney sich im gleichen Jahr auf, die Welt zu bereisen. 1989/90 schaffte McCartney mit seiner “Tripping The Live Fantastic-Tour” ein phänomenales Comeback, nach 10 Jahren Tourabstinenz. Im Jahre 1993 strebte Macca mit seiner “Paul Is Live – The New World Tour” einen ähnlichen Erfolg an. Das nach der Tour veröffentlichte Livealbum “Paul Is Live”, sollte für 11 Jahre McCartneys letzte Livecompilation sein. Universal hat nun dieses Werk, neben den Alben “Wings Over America” (mit der Band Wings, 1976), “Снова в СССР” (1988) und “Amoeba Gig” (2019, erstmals auf Vinyl), auf schwarzem und limitiert farbigen Vinyl veröffentlicht.
Gefühlte zehn Stunden vor dem Paul McCartney Gig stand ich mit meinen Eltern und meinem Bruder vor den verschlossenen Toren der Frankfurter Festhalle. Mit uns anscheinend nur hartgesottene McCartney und Beatles Fans. Es war Ende Februar und höchstwahrscheinlich nicht allzu warm. Wir hatten Schnittchen und Trinkpäckchen dabei. Ich war Mitte 15 und auf meinem zweiten großen Konzert. Das Konzert davor? Ebenfalls Paul McCartney. Ich war dem ausgeliefert, stand doch unser Keller voll mit Beatles Schallplatten und all den anderen Veröffentlichungen rund um die vier aus Liverpool. Und das tut dieser Keller heute noch. Eine wahre Schatzkammer. Nicht die schlechteste Umgebung in mitten von Musikliebhabern und -sammlern groß zu werden. Der Aufwand sollte sich lohnen und ich stand beim Konzert in Frankfurt am 22.Februar 1993 in der allerersten Reihe. “Drive My Car” war der klassische Einsteiger auf dieser Tour und nur wenige Meter von mir entfernt stand Sir Paul mit seinem Höfner-Bass. Erst heute begreife ich, was ich damals als rebellierender Teenager da erlebt habe.


Somit war und ist “Paul Is Live” eine gefestigte Erinnerung, auch wenn auf der Compilation nur Aufnahmen von der US-Tour verwendet worden sind. Das trübt etwas, aber verhindert keineswegs die hochkommenden Erinnerungen beim Hören der Platte. Das Vinyl-Reissue kommt als 180g Doppel-Vinyl inkl. Gatefoldcover auf den Markt. Neben dem schwarzen Vinyl gibt es eine farbig limitierte Auflage (LP1 in babyblau, LP2 in pfirsichweiß). Ich setze die Nadel auf und bin sofort in der Erinnerung und denk an den McCartney zurück, der damals 51 war und in seiner zweiten oder dritten Blüte sich befand. Nach “Flowers In The Dirt” (1989) und “Off The Ground” (1993) hatte McCartney Anfang der 90er-Jahre eine enorm erfolgreiche Phase. Da es bereits 1991 mit “Tripping The Live Fantastic” relativ kurze Zeit zuvor einen ausgewogenen Live-Mitschnitt von McCartney gab, disponierte der Pilzkopf leicht um. Nur der James Bond-Klassiker “Live And Let Die” ist auf beiden Livealben zu finden. “Paul Is Live” ist somit eine Ansammlung von Beatles Hits, die jedoch bei vielen erst in der zweiten Reihe nach “Hey Jude”, “Yesterday”, “Get Back”, “I Saw Her Standing There” oder “Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band” folgen. All diese Hits sind auf “Paul Is Live” nämlich nicht vorhanden. So genannte Lennon-Songs der Beatles performte McCartney sowieso wenn, nur äußerst selten. “Penny Lane” gegen Ende der Platte ist wohl der größte ‘alte’ Song. Obwohl das bei einem Repertoire von “All My Loving”, “We Can Work It Out”, “Lady Madonna”, “Michelle” oder “Paperback Writer” echt schwer oder nahezu gar nicht auszumachen ist. Die ausgewählten fünf Solosongs stammen allesamt vom “Off The Ground”-Album. Dazu gesellen sich noch die Wings Songs “Let Me Roll It”, “My Love”, McCartneys Liebeserklärung an seine erste Frau Linda, und wie bereits erwähnt das übermächtige “Live And Let Die”. Alle Songs im Übrigen im Original aus dem Jahr 1973. Linda McCartney gehörte wie schon zu Wings-Zeiten und wie bei der 89/90er-Tour mit zur Liveband. Hamish Stuart (Gitarre, Bass, Backing Vocals), Robbie McIntosh (Gitarre, Backing Vocals), Paul ‘Wix’ Wickens (Keyboard, Backing Vocals – welcher auch heute wieder zur Liveband McCartneys gehört) und Blair Cunningham (Schlagzeug) komplettieren das Live-Ensemble. Kein Wunder, dass die Band mit so einem Frontmann und solchen Hits in Spiellaune kommt. Das ist dem Album deutlich anzumerken. Klar, man spickte sich sicherlich die besten Versionen aus den Auftritten des US-Frühlings bzw. Sommers 1993 heraus. Mit dem Roy Brown Cover “Good Rockin’ Tonight”, als auch mit dem wohl durch Little Richard bekannt gewordenen “Kansas City”, unterstreicht McCartney auf “Paul Is Live” seine fortwährende Affinität zum klassischen Rock N’Roll der 50er.
Fast schon eine selbst erklärende Geschichte verbirgt sich hinter dem Cover zu “Paul Is Live”. Nachdem Paul McCartney auf dem Cover des Beatles Albums “Abbey Road” barfuß zu sehen war und sich das Gerücht verbreitete, McCartney sei verstorben und durch einen Doppelgänger ersetzt worden, kontert 1993 McCartney die Schlagzeile ‘Paul is dead’ eben mit “Paul Is Live”. Und da schließt sich der Kreis, denn die Livecompilation wurde für die 2019er Version neu gemastered. Eben in jenem Studio an dem bekannten Zebrastreifen der Abbey Road. Einziger Knackpunkt sind die Übergänge der einzelnen Songs, die ein wenig unrund sind und die Illusion von einem tatsächlich so abgelaufenen Konzert schnell zerplatzen lassen. Auch die angehängten Tracks aus Rehearsals und Soundchecks hätte man bei alle Raritätenliebe für drei, vier weitere Hits, die bei dieser Tour definitiv gespielt wurden, nutzen können. Sei es drum. Danke für die Zeitreise. Damals und jetzt. Mein drittes Konzert war im Übrigen nochmal Paul McCartney. Das ist aber in letzter Zeit etwas abwechslungsreicher geworden.

