Die Nerven
Die Nerven
Glitterhouse Records
VÖ: 07.10.2022
Vor 10 Jahren veröffentlichten Die Nerven ihr Debütalbum “Fluidum”. Auf der anschließenden Tour und ihrem Halt im Berliner Club Naherholung Sternchen, einem alten “Kiez-Lokal”, welches zu DDR-Zeiten auch als Raum für politische Versammlungen genutzt wurde, entstand meine Geschichte mit der Band Die Nerven. Selbige verlor ich damals, als die Band mit dem Rücken zum Publikum performte und in meiner Interpretation eine Arroganz an den Tag legte, die ich lange nicht mehr erlebt hatte. Als Folge ignorierte ich die Band einige Jahre. Im Jetzt veröffentlichen nun Julian Knoth, Kevin Kuhn und Max Rieger ihr fünftes, selbstbetiteltes Studioalbum. Und es ist das größte Musikalbum, was der hiesige Musikmarkt dieses Jahr in die Welt da draußen hinaus schickt.
Im April 2013, nach besagtem Abend in Berlin, hätte ich mir selber nicht geglaubt und alles auf den Alkohol geschoben. Doch ich feiere knapp 10 Jahre später das schwarze Album “Die Nerven” der Band Die Nerven ab. Bereits ihre letzten beiden Langspieler “Out” (2015) und “Fake” (2018) ließen offene Münder und Lobeshymnen im ganzen Independent- und Punksektor zurück – und bekehrten mich schließlich. Die vormals interpretierte Arroganz verwandelte sich in Akzeptanz und die sich immer mehr in den Vordergrund spielende Musik ließ übergebliebenes Unbehagen verfliegen. Dass nach ihrem großartigen Album “Fake”, die ganze Chose an Qualität gewinnt, ist außergewöhnlich. Das schwarze Album von Die Nerven ist markant, politisch, brachial, epochal, Punk und Mainstream zugleich. Ihre Single “Europa” wurde veröffentlicht, als der völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine 2022 einen neuen negativen Höhepunkt fand. Ich verspürte Wut, Angst und Unverständnis. Musikalisch und künstlerisch gab “Europa” ein Statement, was mitreißend und erschreckend gleichermaßen war. “Die Nerven” startet mit dieser Anti-Hymne und hält nach dem akustisch gehaltenen Intro ein düsteres und tobendes Feuerwerk ab.
Mit “Keine Bewegung” ist ein nächster Hit bereits als Video-Single veröffentlicht worden. Im August hielt ich fest, dass der Song scheinbar spielend harmonische Melodien und treibenden Druck zu einer Songperfektion zusammenfügt – Ohnmacht und Erlösung. “Lass dich treiben oder treib es an!”, schreie ich immer noch laut mit. Daran anknüpfend ernenne “Ich Sterbe Jeden Tag In Deutschland” als nächsten Hit. Denn auch hier holen mich Die Nerven nicht nur musikalisch ab, sondern sprechen mir wortwörtlich aus der Seele – mit scheinbar einfachsten Mitteln: “Ich kann sie spüren, die falsche Zeit / Will lieber Licht, statt Dunkelheit / Und ich frage mich, wie soll das gehen / Wir sehen uns um und bleiben stehen”. Offensichtliche Spielereien, wie das marschierende “Ganz Egal” oder das Blumfeld-hafte “Ein Influencer Weint Sich In Den Schlaf”, vergrößern nur das eh schon weite Spektrum der Band. Letztgenannter Track ist auf “Die Nerven” in Tempo und Dynamik eine Ausnahme. Folgt nämlich mit “Der Erde Gleich” im Anschluss eine gefühlte Songexplosion. Psychedelisch beginnend, bricht der Song so auf, dass er fast kaputt geht und hinten raus mit starker Punkattitüde auf die Zwölf gibt. Den aufgebauten Druck wirst du in “15 Sekunden” nicht mehr los. Ihr Abschlusstrack “180 Grad” lässt keine Fragen mehr offen und wirkt wie das letzte Schnipsel einer Bestätigung, wer in hiesigen Gefilden einer der besten Bands ist. Pompös baut sich der Song samt Streicher auf und lässt zumindest mich mit einem großen Wow! zurück. “Der Anfang vom Ende” ?
Das ehemals raue und noisige der Band wird mehr und mehr kunstvoll verpackt und hat sich größtenteils zu einem mitreißenden und greifbareren Punkrock entwickelt. Der wiederum wird durch einschlägige Popmomente aufgebrochen, so dass das Album über die Grenzen der bisherigen Fangemeinschaft hinaus Zuspruch finden wird. “Die Nerven” von Die Nerven ist ein weiterer Meilenstein dieser Bandgeschichte. Mehr als spannend, wohin dieses Meisterwerk die Band jetzt führen wird.