Bill Kaulitz
Career Suicide
Ullstein Buchverlage
VÖ: 01.02.2021
Es dauert 173 Seiten, bis aus einer etwas von Selbstmitleid triefenden Geschichte einer einsamen Kindheit in Ostdeutschland die Biografie einer der schillerndsten Persönlichkeiten der deutschen Populärkultur der vergangenen 20 Jahre wird. Bill Kaulitz, Sänger von Tokio Hotel und Model, beschreibt in “Career Suicide” die Aufs und Abs einer beispielslosen Karriere und gewährt dabei einige intime Einblicke in das Musikbusiness im Allgemeinen und sein Seelenleben im Speziellen.
Ganz ehrlich, mich haben Tokio Hotel nie interessiert. Klar, “Durch den Monsun” kannte ich, aber ansonsten war mir das alles herzlich egal. Das erste Mal bewusst beschäftigt habe ich mich mit der Band als das Video zu “Girl Got A Gun” (2014) veröffentlicht wurde, was ich zumindest interessant fand. Meine Liebe für Musik-Dokumentationen führte mich dann vor einigen Jahren zur Arte-Doku “Hinter die Welt”. Die finde ich ziemlich gut, da sie den Kontrast zwischen den Kaulitz-Brüdern und Gustav und Georg, den beiden anderen Musikern der Band, zeigt. Bill selbst erzählt immer wieder recht smarte Dinge, was man übrigens auch bei einigen Podcasts mit ihm (Reflektor, Fest & Flauschig) nachhören kann und die insgesamt ein interessantes und nicht unsympathisches Bild eines leicht unsicheren Menschen zeichnen, der bereits mit 16 fester Bestandteil des internationalen Musikbusiness war.
In seiner Biografie “Career Suicide” schildert Kaulitz zunächst seine Kindheit samt Scheidung, Umzug und Problemen in der Schule. “Tom und ich waren eh überzeugt, dass wir diesen Scheiß nicht mehr brauchten. Viel zu lange hatten wir uns mit den Lehrern und Hortnern rumgeärgert.” Gähn… Aussagen wie diese wirken aus dem Mund eines siebenjährigen dann doch etwas albern. Was ich jedoch gut nachvollziehen kann sind die Schilderungen von Mobbing in Bezug auf sein androgynes Aussehen. Hier werden sicherlich die Weichen für sein späteres Leben gestellt worden sein. Überhaupt spielt das Thema “Hass” eine gewichtige Rolle. Seine Schilderungen in Bezug auf den Gegenwind, der ihnen bei Auftritten (z.B. beim Stock Car Racing auf Pro 7) entgegenschlug sind schon beeindruckend – in negativer Art und Weise. Wie schreibt er so schön: “Aber wenn man sich anguckt, was für kleine Gesichter wir damals hatten und wie jung wir waren, dann ist die Brutalität absurd.” Ich hab das auch nie nachvollziehen können, wie man sich so auf diese Kids einschießen konnte.
Auch das Produzenten-Team, das Tokio Hotel von Beginn an managte und an die Plattenfirmen verschacherte, bekommt ordentlich Lack. Ob man die Verträge so unterschreiben hätte müssen, sei mal dahingestellt. Aber am Ende gehört das nun zur Geschichte der Band, die sicherlich trotzdem die ein oder andere Mark verdient haben wird. Bill Kaulitz bleibt im hinteren, wesentlich stärkeren und interessanteren Teil des Buches ein Stück weit unnahbar. Er hat Angst den Ruhm zu verlieren, ist aber vom selbigen extrem genervt und gestresst. Dabei ist seine ständige Rebellion gegen die Plattenfirmen und Business-Menschen stellenweise ermüdend. Auch das ständige Erwähnen von Alkohol und Drogen sehe ich eher als anstrengend an. Gefühlt kifft er seit er acht Jahre alt ist, was mich selbst dann nur wenig beeindrucken würde. Und doch wächst mit jedem Kapitel der Respekt, den man vor Tokio Hotel und seinem streitbaren Frontmann bekommt. Als Beispiel sei hier vor allem der Auftritt von Tokio Hotel bei den European Music Awards genannt. Sich nach den Schilderungen in seinem Buch den Auftritt anzuschauen, ist eine Art Aha-Moment. Die ehemalige “Kinderband” wird hier zu ernstzunehmenden Künstlern, die perfekt abliefern. Ganz ehrlich… Top-Performance.
“Career Suicide” ist in der ersten Hälfte für Fans der Band bzw. der Person Bill Kaulitz. Die Beschreibungen seiner Kindheit, die Liebe zu seiner Mutter und seinem Bruder und die ersten Erfahrungen als Band, samt eher wenig schmeichelhafter Ersterwähnung seiner Bandkollegen, all das hätte man sicherlich nicht in dieser epischen Breite erzählen müssen. Vielleicht gehört das aber zur Entwicklung des Phänomens “Bill Kaulitz” dazu. Wie übrigens auch das Thema “Stalking”, worüber man jedoch im Zusammenhang mit Tokio Hotel schon oft gelesen haben dürfte. Mich hätten aber gerade die bandinternen Beziehungen interessiert, da die vier Jungs gemeinsam doch einen sehr emotionalen und beeindruckenden Weg durchstanden haben.
“Ein großes Helden-Epos” steht auf dem Buchumschlag. Und Benjamin von Stuckrad-Barre gibt sich im Vorwort auch extrem Mühe, hier an einer wirklich großen Story, eines wirklich großen Künstlers zu stricken. Daran scheitert das Buch am Ende ein bisschen, denn mit 30 Jahren ist Bill Kaulitz eben noch kein großer Held. Er ist ein Popstar, ein Model und tatsächlich die schillernde Persönlichkeit, die ich eingangs erwähnt hatte. Wenn er es nun schafft noch zehn weitere Jahre in den Köpfen der Menschen zu bleiben, reden wir da noch mal drüber. Aber eigentlich wünsche ich ihm gar keine “Helden-Geschichten”. Ich wünsche ihm, dass er seine große Liebe findet und mit ihr glücklich wird. Klingt an dieser Stelle vielleicht doof, meine ich aber wirklich so.
Übrigens: Ullstein liefert das Buch ohne Plastikfolie aus, was ich wirklich toll finde und es deshalb auch extra erwähnen möchte. Danke für das Mitdenken!